Vadim Damier. Protestkundgebungen in Russland

Am 26. März nahmen Tausende Menschen an den Protestkundgebungen in Dutzenden Städten Russlands teil, darunter auch viele Jugendliche, die sich zum ersten Mal irgendwelcher politischen Aktion anschlossen. Die Demonstrationen folgten dem Aufruf des Oppositionspolitikers Alexei Anatoljewitsch Nawalnyi, ihre Stimme gegen die Korruption in den höchsten Regierungsebenen des Landes zu erheben, da – wie er sagte – "die Armut und der Verfall, die uns umgeben, gibt es genau wegen der Korruption". Mehrere regierungskritische Kommentatoren sprechen schon in den sozialen Medien über eine angebliche Wiedergeburt des Protests in Russland. Die Fernsehen-Propaganda funktioniert nicht mehr, nationalistische Begeisterung nach der Krim-Angliederung ist vorbei... Solche oder ähnliche Stimmen ertönen in diesen Tagen. Aber stimmt das?

Gewiss, die Leute in Russland haben genügend Gründe für eine Unzufriedenheit mit der sozioökonomischen Politik des Regimes der herrschenden plutokratischen Oligarchie. Laut den Angaben der Experten und der Statistik bricht die Kluft zwischen Reich und Arm in Russland alle Weltrekorde, indem 40% der EinwohnerInnen nur zum Essen verdienen und 70% sowieso weniger als der sogenannte Durchschnittslohn. Die reichen Leute genießen unglaublichen Luxus. Die soziale Kluft wächst immer mehr. Allein im letzten Jahr stieg die Zahl der Dollar-Millionäre in Russland um 10% – und das trotz der andauernden Wirtschaftskrise. Oder eben deswegen? "Crisis is business as usual".

Die Behörden beklagen Geldknappheit im Staatsbudget. Man plant unter diesem Vorwand die Ausgaben für Gesundheitswesen und Bildung sowie verschiedenen Sozialleistungen weiter zu kürzen, die Verbrauchsteuern und das Rentenalter zu erhöhen usw. Kennzeichnend ist, dass alle Vorschläge, die Reiche mehr zu besteuern oder eine gestaffelte Einkommenssteuer einzuführen, abgelehnt wurden: und zwar, unter dem patzigen Vorwand, dass solche Maßnahmen angeblich die reicheren Menschen "diskriminieren" würde und zu einem sozialen Unmut führen könnte!

Haben wir es also wirklich mit einem schon lange erwarteten Sozialprotest zu tun? Mitnichten. Leider!

Es ist vor allem die Figur von Nawalnyj selbst, die ganz großen Zweifel an seinen Absichten hervorrief – ohne bereits über seine angebliche "Fortschrittlichkeit" zu sprechen! Ein kapitalistischer Unternehmer, der möglicherweise selber in einige Korruptionsaffären verwickelt wurde (so behaupten es zumindest die Behörden!). Ein geschickter Blogger, der sich meisterhaft sozialer Medien bedient. Er wurde seinerzeit aus der liberalen "Jabloko"-Partei wegen seiner russisch-nationalistischen Äußerungen ausgeschlossen. Später saß er im Koordinationsausschuss der traditionellen Straßendemonstrationen der russischen Rechtsradikalen und Neonazis – sogenannter "Russischer Märsche". Auch einige weitere nationalistische Kundgebungen wurden von ihm organisiert und durchgeführt, z.B. unter der Parole "Stoppt den Kaukasus zu füttern!". Damit meinen die russischen Nationalisten, dass der Staat "zu viel" Geld für die Hilfe an die "nicht-russischen" Regionen des Landes ausgibt. Nawalnyj bezeichnet sich selbst als ein "richtiger Nationalist" und verheimlicht seine Sympathien nicht. Ob er wirklich ein "aufrechter" Rechtsradikaler oder "nur" ein geschickter Demagoge ist, der eine nationalistische Karte spielt, scheint mir gar nicht so wichtig. Beide Varianten sind gefährlich und versprechen wenig Gutes.

Das zweite Problem ist die ganze Antikorruptionsthematik, die jetzt die Menschen mobilisierte. Die sogenannte "Anti-Korruption" nährt nicht nur die Illusionen über einen unmöglichen "moralischen" Kapitalismus, indem man konkrete "falsche" Persönlichkeiten und nicht das ungerechte und profitorientierte System für schuldig an allen sozialen Unheils erklärt. Der gesamte "Antikorruptions"-Diskurs war seit eh und je und bleibt auch eine "Lieblingswaffe" des Rechtradikalismus: "Radikalismus der Mitte". Er wurde zu einer Fahne verschiedener rechtspopulistischen Bewegungen in der ganzen Welt, die den Kapitalismus rechtfertigen und nur die "bösen und korrupten Verschwörer in der Macht" denunzieren. Wenn wir also beide obengenannten Momente berücksichtigen, wird klar, dass wir vor einer realen Gefahr einer neuen reaktionären rechtspopulistischen Bewegung in Russland stehen. Mit Nawalnyj an der Spitze, der schon seine Kandidatur für die nächsten Präsidentschafts-Wahlen ankündigte und nach den letzten Demonstrationen als Hauptfigur der Opposition betrachtet wird.

Gewiss, nicht alle TeilnehmerInnen der Kundgebungen vom 26. März teilten die reaktionären Ansichten von Nawalnyi. Möglicherweise nur eine Minderheit. Anderseits stört sein Nationalismus manche Menschen überhaupt nicht. Wenn sie sich heute mit dieser Figur vielleicht nur aufgrund der vagen Proteststimmungen solidarisieren, können sie dennoch in der Zukunft ganz logischerweise in eine breite rechtspopulistische Bewegung inkorporiert werden, um eine Rolle als "Kanonenfutter" für die machtstrebende Demagogen zu spielen. Dann werden wir die nächste Wiederholung einer weitverbreiteten Weltrealität erleben: der brutale Neoliberalismus mit seiner Gesellschaftszerstörung ebnet dem nationalistischen Rechtspopulismus den Weg. An die Stelle der heutigen autoritär-neoliberalen Cholera im Kreml würde eine rechtsradikale Pest treten.

Wenn wir noch die Tatsache hinzufügen, dass die größten Demonstrationen und Kundgebungen zu den "sozialen" Themen (etwa gegen die Zerstörung der allgemein-zugänglichen Medizin und Bildung) in den letzten Jahren nur noch wenige tausend Menschen in der fast 20-Millionen-grosse Metropole Moskau mobilisierten, dann kann man sich klarzumachen, dass eine reale Wiedergeburt der realen sozialen Bewegungen in Russland noch in der Ferne liegt.

Vadim Damier

http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/protestkundgebungen-russland